Okt 8, 2013

Die Statue atmet

Einführungstexte zur Ausstellung in Grancona (VI) / Italien am 18./19./20. Oktober 2013.

„Die Statue atmet“ von Andrea Veltroni

Vor einiger Zeit lernte ich Phoebe Lesch kennen. Sie erzählte mir, sie wolle ihre gesamten bisherigen Arbeiten zerstören und nur eine Statue behalten, die noch keinen genauen Namen besaß. Sie selbst nannte sie etwas scherzhaft „Belfagor“ nach dem berühmten Phantom des Louvre. Sofort sah ich mir ihren Riesen aus Stein an, der archaisch, primitiv und gleichzeitig science-fiction-artig, zukunftsweisend anmutete. Ich habe die Statue zwar noch nicht live gesehen, denn sie steht in Vicenza, wiegt mehr als 900 kg und ist zwei Meter hoch, aber doch einige Fotos; ich fand sie erhaben. Wann ist etwas „erhaben“? Wenn es Grenzen übersteigt, überschreitet. Erhaben. Sublim. Sub-limen. Unter, über die Grenze hinaus. Welche Grenze? Die des Schönen, der Ordnung, des Ordentlichen. Belfagor ist das Barbarische, das monströse, urwüchsige Erhabene. Für mich sieht er wie ein Krieger aus, ein Astronaut, wie die ikonoklastische Darstellung eines gesichtslosen Gotts, wie ein Totem, ein Fetisch, vielleicht wirklich wie ein Phantom oder eine Mumie oder ein Sarkophag... ja, genau! Wie ein Sarkophag. Also sagte ich zu Phoebe, Belfagor sei eine „Mumie der Veränderung“, um die Metapher von Bazin über das Kino zu bemühen. Sie brauchte ihre Arbeiten also nicht zu vernichten, denn Belfagor war der Sarkophag, in den sie ihre ganze wunderbare Kunst einschließen und in den Weltraum schießen konnte. Lunare Kunst aus in Ton modellierten und in Bronze gegossenen Köpfen. Sie selbst meinte später, sie würde ihre Statue gerne an ein Meerufer stellen, aber eines war klar: ein Phantom konnte überall stehen.

Fast spielerisch, denn auch Gott spielt, spielt und tanzt, gab mir Phoebe ein Video: Aufnahmen, die den Steinmetz Marco Peotta bei der Realisierung der Statue mit Meißel, Feile, Presslufthammer, Motorsäge und anderen Gerätschaften zeigten. Alles ausgehend von Phoebes Modell, Phoebes Archetyp; einer Idee. Vielleicht Ideen solcherart, wie sie Platon an seinem „überhimmlischen Ort“ sah. A-cheiro-poietos. „Nicht-von-menschlicher-Hand-gemacht“, aber doch gesägt, behauen, geschmirgelt und schließlich von Phoebe vollendet. Derselbe Zauber, dieselbe Sakralität der Ikonen; die Verbindung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren.

Ich nahm das in den Videos enthaltene Tonmaterial und lud es einfach auf meinen Computer. Der aggressive Presslufthammer wurde zu einem hypnotischen Tanz. Die gewaltige Motorsäge, der lärmende Hammer verwandelten sich in Seufzer. Nichts war je monoton. Alles war immer die „atmende Statue“.

Ein Großteil des Tonmaterials wurde mit Verfahren bearbeitet, die ich nicht erklären möchte, wie auch ein Koch bestimmte Tricks für sich behält. In der Musik lebt das Phantom am Meer (wie Phoebe es sich vorgestellt hatte), auf dem Mond, im Weltraum und unter Wasser, und atmet. Was Sie hören, sind ausschließlich Geräusche der Werkzeuge auf dem Muschelkalk von Vicenza, mit denen die Umrisse des himmlischen Archetyps von Phoebe freigelegt wurden.

Ich hatte vorher schon mit Geräuschen gearbeitet und damit verschiedene Arten von Musik gemacht, doch in diesem Fall wandte sich die Statue mit ihrer Stille an mich. Belfagor ist ein eindrucksvoller Schatten, der in der Stille atmet. Keine Botschaft. Der höchste Punkt der Poesie ist kalt und menschenleer.

Andrea Veltroni


„Die Statue atmet“ von Phoebe Lesch

„Das Universum ruht auf ihrem Gesicht“, bemerkte einer meiner Freunde, als wir einmal zusammen das Grabmal der Ilaria del Carretto in Lucca bewunderten. Erst später fiel mir auf, dass er nicht nur den friedlichen Ausdruck meinte, der von ihrem steinernen Gesicht ausging; er hatte sehr gut auf den Punkt gebracht, um was es bei der Bildhauerei eigentlich geht.

Bildhauerei definiert das Nichts, indem es ihm eine Form gibt; nicht um die Plastik geht es, sondern um das Um-sie-herum. Bildhauerei ist Materie, die über den sie umgebenden Raum bläst und ihm Menschlichkeit einhaucht; und manchmal, wie durch einen Zauber, macht das ganze Universum auf ihr Halt.

Das Nichts einzufangen ist schwer. Es ist da, aber auch nicht. Man fühlt es, ohne es zu sehen. Was tun? Nur nicht zu viel darüber nachdenken: Paradoxen nähert man sich am besten mit dem Gefühl.

Ich wählte das Portrait – ein ebenso verbreitetes wie riskantes Motiv – und modellierte eine Reihe von Köpfen: von Toten, von Lebenden, Visionen von uns Menschen. Als ich sie mir später wieder ansah, dachte ich: was, wenn ich nicht mehr der Materie einen Umriss gebe, sondern dem Nichts? Wenn ich die Dinge einfach von der anderen Seite aus betrachte, ein wenig im Stil von Rachel Whiteread, die Abdrücke von Raumvolumen anfertigt? Mein Nichts war allerdings nicht in Kubikmetern messbar, es hatte keine Grenzen... Schließlich erfand ich „Belfagor“, der trotz seiner Schwere und Bewegungslosigkeit eine Art Space Shuttle-Sarkophag geworden ist, ein Kopf im Universum.

Nach einer Woche Endbearbeitung des Sarkophags zusammen mit Marco Peotta traf ich den Musiker Andrea Veltroni. Er spielte mir einige seiner Stücke vor und ich begriff, dass wir dieselben Dinge meinen, auch wenn wir uns ihnen mit unterschiedlichen Mitteln nähern. Er zeigte mir, wie man heutzutage komponiert. Kenntnisreich mischt er high und low, und dies mit gelinde gesagt ansprechenden Ergebnissen. Andreas Auffassung von Musik, so ahnte ich, würde den Purismus, auf den ich mich aus ganz bestimmten Gründen in der Bildenden Kunst zurückgezogen hatte, ganz vorsichtig aufbrechen.

Andrea Veltroni also schlug mir vor, Musik für „Belfagor“ zu komponieren; mir fielen die zweieinhalb Stunden Video mit einem Haufen Tonmaterial aus der Werkstatt ein, in der die Statue angefertigt worden war und in der auch die Ausstellung stattfindet: Motorsäge, Meißel, Bohrer und ein paar Schwalben, die noch keinen Sommer machen. Das Video war entstanden, ohne je daran zu denken, was ein Musiker damit anstellen würde. Ich wollte festhalten, was man sah – einen Steinmetz, der eine Statue nach meinen Angaben anfertigt – und nicht das, was man hörte. Mit sicherer und leichter Hand verwandelte Andrea die Geräusche in einen mächtigen Klangteppich, der mich begeisterte.

Im Gegensatz zur Bildhauerei - aber vielleicht nur scheinbar - ist Musik körperlos und doch präsent. Diese Eigentümlichkeit wird mir bei meinen nächsten Arbeiten von Nutzen sein. Ein Perspektivenwechsel hilft eben manchmal, auch in der Kunst.

Phoebe Lesch