Nov 13, 2007

Tempelkleinodien des großen Unbekannten

Pressetext zur Ausstellung in der Akademie-Galerie vom 13. - 22. November 2007
Da stehen wir also gemeinsam mit vielen anderen Menschen, die ebenfalls auf die U-Bahn warten. Die scheinbar sinnlos verstreichende Zeit verleitet zum uneingeschränkten, existentiellen Gedankenwälzen. Ein Meer von Köpfen erstreckt sich rechts und links den Bahnsteig hinunter, die meisten starren ins Leere. Hier steht eine Gruppe von Individuen der Spezies Mensch, ausgerüstet mit einem hochkomplexen Netz von Nerven, einem Gehirn, das als kompakte Masse von gräulich-schleimiger Substanz zwar vielleicht nicht so aussieht, aber doch die Voraussetzung für unser Leben als intelligente Wesen ist – was denken wir uns eigentlich?

Wir interagieren mit der uns umgebenden, realen Welt, sind aber auch Bewohner einer geistigen Welt, die wir vor die wirkliche schieben, um sie uns zu erklären. Diese geistige Welt wurde durch jahrhundertelange Anstrengungen und Beiträge verschiedenster Individuen von der Menschheit selbst konstruiert. So entstand und entsteht eine riesige Menge an Wissen und geistigen Schätzen, die sich jeder Mensch anlesen, anhören, ansehen kann. Denn zum einen gibt es diese über Generationen tradierte geistige Welt, andererseits muss sie sich jeder Einzelne im Laufe seines Lebens erst erarbeiten. Und da ihn währenddessen unterschiedliche Einflüsse und Interessen leiten, kommt jeder zu seinem ganz persönlichen Weltbild. Was denken wir uns also? Was geht vor in dieser grauen Masse? Und überhaupt: wie bilden sich Persönlichkeit, Emotionen heraus und alles, was uns unterscheidet von einer Maschine, die lediglich funktioniert?

Sobald man aus dem Untergrundschacht hervortritt und seinem ursprünglichen Ziel entgegen eilt, haben sich diese Fragen meist auch schon wieder erledigt. Von daher scheint uns die Akademie-Galerie zwischen Bahnsteig und Oberfläche, programmatische Verlängerung des Unorts U-Bahn, die ungeahnte Möglichkeit zu bieten, das kurze Zwischenspiel der freien Gedanken zu jenen existentiellen Fragen zu verlängern. Was gibt es also zu sehen in unserer Ausstellung? Zum einen großformatige Zeichnungen von Melanie Grocki, die Denkvorgänge und Wahrnehmungsprozesse bildnerisch umsetzt - stringent, sehr diszipliniert und doch frei. Zum anderen Plastiken von Phoebe Lesch, keine Portraits, aus denen die Gefühlslage eines Individuums spricht, sondern idealisierte Köpfe mit klassischen Attributen. Die Frage nach dem Denken also einmal „neurologisch”, einmal „historisch” aufgefasst.

Die Arbeiten stellen Formen vor, die entwickelt, wieder urbar gemacht, variiert, neu kontextualisiert werden, als Möglichkeit und Versuch eines zeitgenössischen Ausdrucks im Feld der Kunst. Sie überlegen sich, ob und wie mit dem alten Alphabet der Formen noch etwas Relevantes zu sagen ist. Sie denken sich, dass der (rationale) Gedanke, Tempelkleinod des großen Unbekannten, mit Kunst etwas zu tun hat. Alleine schon, um den Betrachter nicht herabzusetzen. Alles weitere? Werden wir dann schon sehen.

("Tempelkleinodien des großen Unbekannten" ist ein Zitat von Heinrich Heine.

Im Kopfe trage ich Bijouterien,
Der Zukunft Krondiamanten,
Die Tempelkleinodien des neuen Gotts,
Des großen Unbekannten.

Deutschland - ein Wintermärchen, Caput II)


Kritik

"... Ihre Vorbilder finden Leschs granitfarbene, idealisierte Köpfe... weniger in der modernen Wissenschaft als in der klassischen Antike. Während drei der vier Köpfe nur mäßig originell ein klassisches Thema durchspielen, weiß der vierte, expressiver gestaltete Kopf zu faszinieren. Und zwar durch seinen siamesischen Zwillingsschädel, der ihm aus der Seite wächst. Fast wirkt es so, als würde sich der eine Kopf den anderen erträumen. Ein künstlich geschaffener Kopf, der träumt; was wohl die Neurowissenschaftler dazu sagen.“
(Denken sichtbar machen, Jürgen Moises, SZ vom 19. November 2007)