Jun 14, 2013

Rille im Kopf: Texte

Mein Beitrag zur Ausstellung "Die Stirn des Künstlers" im Atelierhaus Dachauerstraße, München

Die Begriffe waren vorgegeben, die Texte habe ich geschrieben.


MITGEFÜHL


Sé beugt sich lustvoll über ihre Goldbrasse. Tafelnd beginnt das Gespräch.
„Und, edler Ritter, wie steht‘s?“
Der so Genannte poliert nervös die beschlagene Nachmittagsluft.
„Ich bin müde. Ich hasse Alle. Ich bin ein Narr“.
„Zu viel Whisky“, bemerkt Sé und zieht missbilligend die Tragbalken zusammen. Ihre romanische Anatomie ist angenehm streng. Auf ihrer Fassade prangt eine leuchtende Rosette.
Der Ritter senkt die langen Wimpern, fahrig skizziert seine Pfote einen Sarg. „Ein paar schwere Fehler und meine Überheblichkeit“, denkt er ergeben.


SCHÖNHEIT

Manuelino ist da.
Mit geflochtenen Würsten, prächtigen Pflanzen und waghalsigen Bögen geschmückt tritt er an den Esstisch, schiebt anmutig die Fischgräten beiseite und positioniert an ihre Stelle eine Armillarsphäre. Dann lässt er sich auf dem rechten Turm der Sé nieder und lässt locker seine Auswüchse baumeln. Sé wirft ihm einen belustigten Blick zu.
„Aus Kristall ist die nicht“, stellt der Ritter klar und deutet mit seinem haarigen Pferdefuß auf die thronende Kugel. Manuelino greift nach dem Gegenstand, versetzt Längen- und Breitengrade und lässt seine Finger über die rosafarbene Marmoroberfläche gleiten.
„Nur die Form zählt“, sagt er entschieden.


GETRENNTHEIT

Wir fahren die Panoramastraße entlang. Es gibt da einiges zu sehen: sich wellenförmig ausbreitende Hügel, sengende Sonne, weiß geordnete Dörfer, blaue Luft, in Reihen gepflanzte Eukalyptusbäume, in der Ferne ein kühlender Stausee. Das Panorama: Kulturlandschaft, die mit 100 km/h an uns vorüberzieht.
„Naja“, denken wir gelangweilt, „Kino ist besser“.
Da zoomt die Windschutzscheibe zwei Ponys auf. Sieht so aus, als würden die einfach stehen bleiben. Wir bremsen. Die Pferde drücken ihre schnaufenden Mäuler in die herabgelassenen Autofenster und werfen uns einen niedergeschlagenen Blick zu. Die Natur, hautnah, wie wunderbar! Entzückt atmen wir den Moment ein und treten befriedigt auf die Kupplung.


WAHN


Mit Rehaugen überzeugte sie den Nachbarn, ihr die Tür zur Dachterrasse zu öffnen. Dann wälzte sie sich über die Mauer, zerschmetterte meine Balkontür und, nachdem sie, ein rot beschuhter Panther, wilde Blicke und blutige Finger durch die Wohnung geworfen hatte, umarmte sie unter wahnsinnigem Geheul meine Gipsbüste und stürzte mit ihr ins Treppenhaus. Vom Balkon sah ich sie mit der Plastik im Arm die Straße hinunter stürmen.


BEWUSSTSEIN

Rille in Muschel, in Sand, in Fels. Rille im Kopf. Schiefer saust schräg in furchendes Wasser, Wellen stürmen über Stümpfe und schlierige Kanten. Selig-blaues Universum als Negativraum. Ist wichtig, wie es funktioniert oder wie wir es finden? Netzhaut: gerillt, auch.


RISIKO

Kein vernünftiges Wesen weit und breit; das kann nicht so weitergehen. Ich hänge einen Zettel an die Ateliertür. „Wer das Zimmer betreten will, muss schwach, biegsam und unglücklich sein. Und den Glauben haben“, steht darauf. Ein großer, schlanker Mann kommt. Er hat graue Augen und feine Hände. Wir kennen uns flüchtig. Er geht zu Fuß und übt sich in Gleichmut. Sein Leben? Via Crucis, behauptet er.

Er kennt das Zitat; es stammt aus dem Tarkowskij-Film „Stalker“. Stalker führt Menschen in ein Zimmer, in dem ihre unbewussten Wünsche wahr werden. In Begleitung eines Wissenschaftlers und eines Schriftstellers macht er sich auf die Reise in unwirtliches, verbotenes Gelände, in dessen Zentrum das Zimmer steht.

Wir unterhalten uns stundenlang, monatelang. Wir durchpflügen das All, jedes Mysterium wird umschlichen, alle Gedanken anerkannt. Schließlich sage ich:

„Mein tiefster Wunsch ist, dass die Wirklichkeit sich meinen Visionen unterordnet. Aber das darf niemals geschehen, das ist totalitär. Ich will von diesem Zimmer nichts wissen.“ Er sieht mich ruhig an, klemmt sich eine Zigarette zwischen die Zähne und rollt sie von rechts nach links nach rechts.

„Wir...“, sagt er, „wir sind doch schon längst drin.“


KONDITIONIERUNG

„Wer glaubt, er könne Kunst schaffen, indem er die „Arbeiten“ anderer Künstler „weiter entwickelt“, verwechselt Kunst mit Wissenschaft“, sagt der italienische Künstler Gino De Dominicis.
Auf den ersten Blick scheint das richtig; gute Kunst ist wie ein neu geborener Planet. Stellen wir uns vor: die Kunstgeschichte vernichtet, ihr Gewicht von den Künstlerschultern genommen und der goldene Pfad frisch und frei beschritten... aber ist es wirklich so einfach? Bedingt die Erschaffung ganz eigener Kunst nicht sehr wohl die intensive Beschäftigung mit Kunstgeschichte? Man muss lernen, assimilieren, vergessen. Erst dann ist der Weg frei.